Liebesdienst im "Wohnzimmer"

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Jens
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Liebesdienst im "Wohnzimmer"

Beitrag von Jens » 23. Okt 2008, 11:02

Ein Bekannter von MW und mir - demnächst 60 und eingefleischter Unioner - hat mir neulich diesen Artikel hier geschickt (zum Glück gibt es ihn auch im Internet). Es schien ihm ein bisschen unangenehm zu sein, dass "erst ein Kommunistenblatt her musste", um über die Aktion ausführlich zu berichten, aber der Artikel ist echt lesenswert:

Liebesdienst im »Wohnzimmer«
Fans des 1. FC Union Berlin sanieren in Eigenregie das Stadion An der Alten Försterei
Von Alexander Cierpka

Haste verpennt?« Mario ist sichtlich bemüht, die Stirn seines freundlichen Gesichts in Falten zu legen. Gestrenger Blick auf die Uhr, Grinsen: »Jeh' mal zu Sylvia, die teilt Dich ein.« Es ist kurz nach sieben, eine Zeit, in der Menschen meist murrend und fluchend dem Arbeitstag entgegenblicken. Viel zu früh noch, um gute Laune zu haben. »Morjen, Jungs!« flötet dessen ungeachtet eine entwaffnend gut gelaunte Stimme. Sie gehört Sylvia Weisheit, Projektleiterin einer Baustelle des 1. FC Union Berlin, dem Ort, an dem Fans des Vereins das Stadion An der Alten Försterei ohne Lohn in Eigenregie umbauen. Weisheit organisiert, beschafft Material, trommelt Freiwillige zusammen. In erster Linie aber sichert sie die Motivation der Arbeiter. Jedem Neuankömmling schenkt die gelernte Wirtschaftskauffrau mit kurzen blonden Haaren ihr natürliches Lächeln: »Schön, dass Du da bist.« Sie ist eine von nur sieben Fachkräften, die auf der Baustelle bezahlt werden. In ruhigem Ton erklärt Weisheit die Aufgaben der kommenden Stunden. Aus dem Hintergrund indes erschallen deutlichere Worte: »Ab, an den Jeräteschuppen, Material jeholt, Team Gossi, flott, flott!« Gelächter auf der Haupttribüne. Der Ton ist rau, die Menschen herzlich. Willkommen auf der emotionalsten Baustelle Berlins.

2. Juni 2008, schon jetzt ist es zu warm, längst hat die Sonne den Kampf gegen die Nebelschwaden gewonnen, die eine Stunde zuvor malerisch die schiefen, mit Unkraut überwucherten Stufen der Alten Försterei eingehüllt hatten. Das Urwüchsige, das charmant Selbstverständliche des Verfalls lässt dieses Stadion bislang wie eine Trutzburg gegen die vermeintlich unaufhaltsamen Boten des modernen Fußballs wirken: Auswüchse des schrillen Sommermärchen-Boheis der vergangenen Fußball-WM, in deren Schatten überall in Deutschland austauschbare Eventtempel entstehen. Sterile Arenen, die nicht mehr Stadion heißen dürfen, da dieser Begriff an eine schmutzige, verruchte, prollige Zeit erinnert, in der Stehplatz, Bier und Stadionwurst reichen, um den Fußballfan glücklich zu machen.

Es ist der Tag, an dem geschieht, was Fans und Offiziellen des 1. FC Union Berlin wie ein Wunder vorkommen muss: Nach Jahren des Streits, des Taktierens, des Stillstands rollt endlich schweres Gerät in Berlins atmosphärischstes, jedoch marodes Fußballstadion – identitätsstiftend für die Anhänger des Vereins. Etwa 50 freiwillige Helfer, alle Fans und Mitglieder des 1. FC Union Berlin, finden sich an diesem ersten Tag ein, um mit Bohrhammer, Spitzhacke, Spaten ihr, wie sie es liebevoll nennen, eigenes »Wohnzimmer« abzutragen. Ein Widerspruch? Marvin blickt wehmütig aus seinen klaren blaugrauen Augen über die schiefen Traversen: »Es tut schon weh, dieses urwüchsige Stadion abzureißen. Aber das sind halt die Zwänge der DFB-Auflagen«. Er wischt den Schweiß von der Stirn – der Stadionkessel ist mittlerweile auf unerträgliche 40 Grad aufgeheizt –, beißt die Zähne zusammen und lässt den Bohrhammer in eine alte Steinbegrenzung fahren. »Uns bleiben nach der Sanierung die Stehplätze erhalten, das ist entscheidend.« Der 19-Jährige, der gerade sein Abitur abgelegt hat, wird in den kommenden Wochen einen großen Teil seiner Freizeit als Stadionbauer für seinen Verein investieren. Ehrenamtlich. Angetrieben von der Motivation, Teil eines Projekts zu sein, das als Notlösung startete und heute, vier Monate nach Beginn der Baumaßnahmen, ein Rührstück Berliner Stadtentwicklungsgeschichte schreibt. Zur Aufführung gebracht haben es Dirk Thieme, Architekt, und Dirk Zingler, Präsident des Vereins.

Ein trister, dunkler Septemberabend in Berlin-Weißensee. Thieme, nebenbei Fanvertreter im Aufsichtsrat von Union, sitzt entspannt auf der Ledercouch im Empfangsbereich seines großzügigen Büros. Er wirkt trotz des langen Arbeitstags ausgeglichen. Aus gutem Grund: Als geistiger Vater des Stadionprojekts kann Thieme nach über drei Jahren der harten Auseinandersetzung mit dem Berliner Senat nun die Früchte seiner Arbeit genießen. Wobei er sofort klarstellt: »Das, was es jetzt geworden ist, ist aus der Not heraus geboren.«

Diese Not hat viele Gesichter: Der DFB kündigt Anfang des Jahres an, keine weiteren Ausnahmeregelungen für den Spielbetrieb der neuen Dritten Liga im Stadion An der Alten Försterei zu erteilen. Zwischenzeitlich droht gar die baupolizeiliche Schließung. Finanzierungspläne für die überfällige Sanierung scheitern wahlweise an der Berliner Haushaltslage oder dem Unwillen der Verwaltung. Die Absicht, das Stadiongrundstück für den symbolischen Preis von einem Euro zu übernehmen, kollidiert mit wettbewerbsrechtlichen Hürden der EU. Letztlich genießt Union einen Ruf, den Thieme knapp umreißt: »Immer verschuldet, nie Geld, ständig Lizenzprobleme. Bis heute.« Den Tiefpunkt bilden populistische Stimmen aus dem Berliner Senat, die den Köpenickern den unbezahlbaren und hinsichtlich der Wurzeln des Traditionsvereins absurden Umzug ins Berliner Olympiastadion empfehlen. Der immer wiederkehrende Einwurf, Berlin verfüge ja über den drittligatauglichen Jahnsportpark, disqualifiziert sich schon aus ästhetischen Gründen.

Die Wende bringt der Mai, genauer, ein Termin beim Bezirksamt Treptow/Köpenick. »Die haben uns die Pistole auf die Brust gesetzt, 600 000 Euro Baukostenzuschuss angeboten und gesagt, es gibt nur die Chance, dass ihr es selber macht«, erinnert sich Thieme. »Eigentlich war es nicht realistisch, aber eine einmalige Chance. Wir haben hoch gepokert und wussten, es geht nur mit Fanarbeit.«

Die Skepsis indes bleibt. Skepsis, ob nicht doch nur das ewig gleiche Häuflein Freiwilliger über Monate hinweg im Stadion schuften wird. Skepsis, ob das Großprojekt ohne planerische Vorlaufzeit zu stemmen ist. »Zwischen unserem Entschluss, ›Wir machen's!‹ und dem ersten Bautag lagen gerade mal zwei Wochen, da hatte ich schon Angst«, räumt Thieme ein. Die Zweifel verfliegen bereits in der ersten Bauwoche. Fünf Tage Stadiondemontage sind geplant, nur zwei werden schließlich dank zahlreicher Freiwilliger benötigt. Noch immer ist der Sturm auf Antragsformulare zum ehrenamtlichen Baudienst ungebrochen – Fans und Mitglieder des Vereins reißen sich geradezu darum, bei der Renovierung der Alten Försterei dabei zu sein. Bis heute helfen insgesamt 750 Freiwillige, täglich sind es bis zu 50, im Schnitt über 30. Beispiellos, selbst für Union-Fans, die in der Vergangenheit oft an ihrem Stadion mitgebaut haben.

Einer von ihnen ist Gossi, eigentlich Andreas, was hier aber niemanden interessiert. Der kräftige Mann mit den strahlend blauen Augen sitzt auf einer Bierbank beim Frühstück. Die Augustsonne spiegelt sich auf seiner Glatze. Neben ihm isst Egon belegte Schrippen für 10 Cent, Wurst, Käse, Fleischsalat. Beide leiten Kernteams, beide sind vom ersten Tag an hier, beide wollen bis zum letzten Tag bleiben. Gossi, gelernter Schmied, hat 1979 mit anderen Fans den Wuhle-Wall des Stadions, den heutigen Gästebereich, aufgeschüttet. »Mit märkischem Heide-sand«, betont der 46-Jährige, »aus den obligatorischen Ost-Plastekübeln, in denen immer die Milchtüten gelagert wurden.« Der Unterschied zu heute? »Früher wurde improvisiert, weil nichts da war, heute ist vieles da, aber durch die täglich wechselnden Gesichter, die alle verschiedene Fähigkeiten haben, müssen wir trotzdem viel improvisieren.«

Egon nickt: »Manchmal haste hier Akademiker, die motivierter sind als irgendwelche Bauluden.« Wie zur Bestätigung tönt es vom Nachbartisch: »Ick hatte drei Mal in meinem Leben Blasen an den Händen: Einmal beim Barrikadenbau in der Mainzer Straße, einmal beim Tunnelgraben im Wendland und jetzt hier im Stadion.« Die Stimme gehört Chris, Schauspieler am Kinder- und Jugendtheater in Leipzig, der sogleich ins Schwärmen gerät: »Das hier is' blanker Kommunismus. Jeder will arbeiten, jeder hilft jedem, alle halten zusammen.« Der charismatische Mittvierziger bringt damit auf den Punkt, was die vielen hundert Helfer antreibt, ihre Freizeit dem Verein zu spenden. Niemand wird hier abgewiesen, jeder wird gebraucht, ob direkt auf der Baustelle, ob als Ordner oder Koch. Einen aufgeregten Neuling hält es derweil nicht mehr am Tisch: »Halb zehn, machen wir weiter?« »Nu' bleib' mal janz ruhig«, knurrt Egon.

Die Stadionbaustelle in Berlin-Köpenick ist auch ein Stück Sozialprojekt, nicht nur auf dem Papier, sondern ganz real. Gossi, der als Vorarbeiter in den vergangenen Wochen etliche Menschen angeleitet hat, betont mit sichtlichem Stolz: »Wir haben hier auch ein paar gescheiterte Existenzen. Die haben wir mit der Arbeit wieder aufgebaut. Die sind jetzt motiviert, die fühlen sich wieder gebraucht.« Schippen, Stemmen, Schalung säubern – selbst anfallende »Scheißarbeiten«, wie Gossi es nennt, werden klaglos von den Freiwilligen erledigt. Niemand hier ist sich für eine Arbeit zu schade. Egon ergänzt: »Auf dem normalen Bau würde ich meinem Chef sagen: Biste bekloppt, mach' deinen Dreck alleene. Hier weiß jeder, wofür er arbeitet. Das ist unser Wohnzimmer, unsere Familie.«

Das große Wort Familie ist allgegenwärtig und keineswegs übertrieben, um die Atmosphäre auf dem weitläufigen Gelände An der Alten Försterei zu beschreiben. Hilfsbereitschaft, Offenheit, Nachsicht, selbst schwierige Charaktere werden einbezogen, nicht ausgegrenzt. Die Freiwilligen eint das Gefühl, für etwas zu arbeiten, mit dem sie sich bedingungslos identifizieren – ein Stadion, das radikal gegen den herrschenden Trend in Deutschland umgebaut, saniert, verschönert wird. Ein Stadion ohne unnötigen Schnickschnack. Ein Stadion, das weiterhin fast ausschließlich aus Stehplätzen bestehen wird. Schlichtweg ein Traum für jeden Fußballfan mit Traditionsbewusstsein.

Dirk Zingler weiß um die Belange seiner Union-Kunden. Der erfolgreiche Bauunternehmer existiert derzeit gleich dreifach, als Klubpräsident, Union-Fan und Diplomat. Für den Diplomaten Zingler sind die Grabenkämpfe mit dem Berliner Senat »von Verständnisproblemen gekennzeichnet. Berlin ist gut beraten zu erkennen, dass ein Stadionprojekt von Union keine Belastung, sondern eine Chance für die Stadt ist«. Der Fan Zingler hält ein »Stehplatzstadion für eine Frage der Identität. Die Stimmung An der Alten Försterei wird durch diese Stehplatztradition getragen«. Und der Präsident Zingler »hätte nicht damit gerechnet, dass die Fans sich derart zahlreich und leidenschaftlich engagieren.« Für ihn ist es »eine tolle Überraschung, dass die Baustelle trotz der Anzahl ungelernter Kräfte eine derart hohe Leistung hat.«

Eine Leistung, die nach nunmehr 90 Bautagen sichtbar ist: 30 Stufen sind betoniert und begradigt, derzeit werden die Fundamente für das Dach gegossen, das ab dem 15. Oktober installiert werden soll. Geplante Fertigstellung des Stadions: Zum Heimspiel gegen Erzgebirge Aue Ende November.

Herbstwetter. Die Wolken hängen tief über der Alten Försterei. Grau, ungemütlich, verregnet. Kurz nach sieben. »Morjen, Jungs!«, klingt es vertraut aus dem Baubüro. Die knapp 40 Freiwilligen schlüpfen in gelbe Regenjacken, verteilen sich auf die Kernteams, beginnen mit der Arbeit. Niemand murrt, niemand flucht. Es sind Studenten, Rentner, Akademiker, Arbeitslose, Familien, die ihren Jahresurlaub auf der Baustelle verbringen – ein bunter Haufen von Geschichten, wie jeden Tag bislang. Sylvia Weisheit lächelt noch immer bei jedem Neuankömmling. Gedankenverloren lässt sie ihren Blick über die fast vollständig betonierten Traversen des Stadions gleiten: »Das ist die geilste Baustelle, die ich je hatte.« Sichtlich gerührt ergänzt sie: »Ich werde die Zeit hier niemals vergessen.« Ein Gefühl, das Weisheit mit jedem Beteiligten dieses einmaligen Projekts teilt.


Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel ... immer.html
Joh 14,6

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Re: Liebesdienst im "Wohnzimmer"

Beitrag von NurDerKSV » 23. Okt 2008, 13:02

Aller größten Respekt :o Finde ich absolut beeindruckend!!
RWG Kai

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Re: Liebesdienst im "Wohnzimmer"

Beitrag von goldenbox » 23. Okt 2008, 17:31

nur janz kurz:
vor einigen wochen war auch ich einer von 850 und es hat riesenspass gemacht, unser wohnzimmer mitzutapezieren. alles sehr entspannt dort, kostenlose verpflegung durch sponsoren, handshakes mit entscheidungs-trägern - ich und wir sind sehr stolz auf das bisher geschaffte...
obwohl schon mal verlinkt: http://www.youtube.com/watch?v=UG7zIPvoXFk

wie gerne hätte nicht nur ich diese saison gegen den ksv in der AF gespielt!

EISERN!
www.falscher-einwurf.com

ein schuss, ein tor, ein pony!

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